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Magical Soup. Eine Reise in die Geschichte der Medienkunst

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Korakrit Arunanondchai, Painting with history in a room filled with people with funny names 3, 2015, Video, 24:44 Min., © Korakrit Arunanondchai 2019; courtesy the artist; Carlos / Ishikawa, London; Clearing, NewYork; Bangkok CityCity Gallery, Bangkok
Korakrit Arunanondchai, Painting with history in a room filled with people with funny names 3, 2015, Video, 24:44 Min., © Korakrit Arunanondchai 2019; courtesy the artist; Carlos / Ishikawa, London; Clearing, NewYork; Bangkok CityCity Gallery, Bangkok

Anna Catharina-Gebbers und Charlotte Knaup betreuen im Hamburger Bahnhof die Ausstellung “Magical Soup”. Hier werfen sie einen Blick auf die Geschichte der Medienkunst und erklären, was sie leisten kann.

Text: Anna Catharina-Gebbers und Charlotte Knaup

“Babylon, Babylon, Babylon”: In einer hypnotischen Endlosschleife ist diese melancholische Zeile aus dem gleichnamigen Lied des Popmusikers David Grey zu hören, während Bilder einer in orangefarbenes Licht getauchten, kargen Wüstenlandschaft vorbeiziehen. Ruinen erscheinen. Die Kamera tastet Grabstätten und Paläste ab. Hände heben Scherben auf und halten sie ins Bild. Dazwischen zeigen Einstellungen das moderne Bagdad und das babylonische Ischtar-Tor im Berliner Pergamonmuseum.

Diese Szenen stammen aus “Artefacts” (2011) von Cyprien Gaillard und sind in der Gruppenausstellung “Magical Soup” zu sehen, die das Verhältnis von Hören, Sehen und gesellschaftlicher Prägung erkundet. Insbesondere Musik hat die Kraft, imaginäre Welten zu erzeugen und mythische Stätten wie die antike Stadt Babylon auferstehen zu lassen. Gaillards Bilder sind von einem fast schmerzhaften Realismus: Die verlassenen Ruinen sehen wir neben Soldaten im Irakeinsatz. Die Bilder entstanden 2011, im letzten Jahr der US-geführten Besatzung, die auf den aufgrund angeblicher Beweise für Massenvernichtungswaffen initiierten Irakkrieg von 2003 folgte. Für den Film reiste Gaillard mit einer Schutztruppe zu den archäologischen Fundstätten. Seine Bilder aus Berlin zeigen das Ischtar-Tor, das Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Archäologen ausgegraben, nach Berlin gebracht und 1930 rekonstruiert worden war.

Die Zusammenführung verschiedener Zeitalter in Gaillards Bewegtbildern spiegelt sich in der Wahl der Medien: Die mit der Handykamera erstellten Videos übertrug der Künstler vom zeitgemäßen Digitalformat auf das eher historische Medium des 35mm-Analogfilms und lässt sie nun im Museum von einem imposanten Projektor vorführen.

Stan Douglas, Deux Devises: Breath and Mime, 1983, Still, © Stan Douglas / Staatliche Museen zu Berlin, Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof
Stan Douglas, Deux Devises: Breath and Mime, 1983, Still, © Stan Douglas / Staatliche
Museen zu Berlin, Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof

“Magical Soup” ist eine Reise in die Geschichte der Medienkunst. Die Nationalgalerie verfügt über eine der umfangreichsten musealen Medienkunstsammlungen in Europa. Die Bestände bedeutender historischer Videokunst wurden in den letzten Jahren um herausragende neuere zeitbasierte Arbeiten erweitert. Die Gruppenausstellung zeigt auf über 2000 qm zentrale Werke, darunter auch zahlreiche Leihgaben aus der Friedrich Christian Flick Collection, aus denen sich die Ausstellungen in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs in den vergangenen Jahren wesentlich speisten. Mit dabei sind Arbeiten von Videokunst-Pionierinnen und -Pionieren wie Nam June Paik, Charlemagne Palestine, Ulrike Rosenbach oder Keiichi Tanaami, von multimedial arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern wie Nevin Aladağ, Stan Douglas, Cyprien Gaillard, Douglas Gordon, Rodney Graham, Anne Imhof, Pipilotti Rist, Lawrence Weiner, Nicole Wermers oder David Zink Yi sowie jüngere künstlerische Positionen von Korakrit Arunanondchai, Trisha Baga, Dineo Seshee Bopape, Christine Sun Kim, Sandra Mujinga und Sung Tieu. Ausgehend vom Verhältnis zwischen Ton, Bild und sozialem Raum versammelt die Präsentation Medienkunstwerke, Installationen und Papierarbeiten von den 1970er-Jahren bis zur unmittelbaren Gegenwart.

Genauso wie Gaillards “Artefacts” erzählt “Deux Devises” (1982–83) von Stan Douglas von verschiedenen Wirklichkeiten. Im ersten Teil der Projektion ist ein Lied des französischen Komponisten Charles Gounod zu hören. Doch statt eines Bildes von Sänger oder Besungener laufen die nüchternen, ins Englische übersetzten Textzeilen des Liedes über die Projektionsfläche. Im zweiten Teil wird ein Song des Bluesmusikers Robert Johnson aus den 1920er-Jahren von fotografischen Selbstporträts des Künstlers begleitet, in denen sein Mund Phoneme artikuliert, die jedoch nur gelegentlich synchron zum Lied sind. “Deux Devises” unterläuft die Publikumserwartung: Obwohl die Wahrnehmung danach strebt, will sich die der Stimme zugeschriebene Magie nicht mit der Wirklichkeit der Bilder vereinen.

So wie Musik Vorstellungsräume eröffnen kann, können Bilder Klangräume heraufbeschwören, die über Leinwand und Bildschirm hinausführen. Töne haben die Kraft, Räume physisch zu erschüttern, und Sprache kann wie in Sung Tieus Werk “No Gods, No Masters” (2017) zur Kriegsführung eingesetzt werden. Sprache ist vielfältiger, als wir annehmen, wie Werke von Christine Sun Kim, Künstlerin und Aktivistin für Gebärdensprachenübertragung, zeigen. Um Sprache, Töne und Musik kreisend, bewegen sich die Werke in “Magical Soup” zwischen genauer Beobachtung, radikalem Selbstausdruck und bewusster Dekonstruktion von Identität. Greifbar werden Sichtweisen auf eine Realität, die sich im Fluss befindet und die immer wieder nach Erweiterungen bisheriger Gewissheiten verlangt.

Nam June Paik, I Never Read Wittgenstein (I Never Understood Wittgenstein), 1997, Ausstellungsansicht „Hello World. Revision einer Sammlung“, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2018, © Nam June Paik Estate / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / 2013 erworben durch die Freunde der Nationalgalerie / Thomas Bruns
Nam June Paik, I Never Read Wittgenstein (I Never Understood Wittgenstein), 1997, Ausstellungsansicht „Hello World. Revision einer Sammlung“, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2018, © Nam June Paik Estate / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / 2013 erworben durch die Freunde der Nationalgalerie / Thomas Bruns

“Mit ‘magisch’ im Gegensatz zu ‘mythisch’ sollte angedeutet sein, daß das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält”, schrieb Franz Roh 1925. So umriss der Kunstkritiker vor fast einhundert Jahren den Magischen Realismus. Dieser resultierte für ihn aus neuen Arten, das Vertraute zu sehen und zu beschreiben, sowie neuen Entwicklungen im Alltag und sollte die Darstellung von Wirklichkeit auf besonders präzise Weise sichtbar machen. Roh beschrieb mit dieser Kunstströmung auch eine neue Sichtweise auf die empirische Wirklichkeit, indem in der Kunst eine andere Wirklichkeit geschaffen wurde.

Dieser spekulative Realismus drückt sich etwa in den techno-animistischen Werken von Korakrit Arunanondchai aus, in der eine Drohne für den Götterboten Garuda und die Performerin Boychild für seine Widersacherin, die Erdschlange Naga, steht. Diese Selbstverständlichkeit findet sich auch im spekulativen Feminismus der raumgreifenden Installation “The Violet Revs” (2017) von Nicole Wermers: Mit den Lederjacken einer offenbar weiblichen Motorradgang, die über weißen Plastikstühlen hängen, “besetzt” diese Gruppe den öffentlichen Raum. Die Belegung von Raum durch hinterlassene Jacken oder Handtücher ist so geläufig, dass wir dies für ebenso selbstverständlich nehmen wie die Annahme, dass die Gang real ist.

Der Titel der Ausstellung legt eine Verbindung zum Lied über die “schöne Suppe” nahe, mit dem Lewis Carroll in “Alice im Wunderland” (1865) dem Auseinanderfallen von Worten und deren Sinn eine Parodie gewidmet hat. Aber Carroll überzeugt uns durch die Genauigkeit der Beschreibung von der Realität der Sachverhalte. Und so klingt in “Magical Soup” an, dass Bedeutungen und damit auch gesellschaftlich oder fiktional erzeugte Räume umso selbstverständlicher wirken, je genauer sie dargestellt werden. Schon der Autor Alain Robbe-Grillet 1965 schrieb über Franz Kafka: “Im Endeffekt ist nichts phantastischer als die Genauigkeit.”

Korakrit Arunanondchai, Painting with history in a room filled with people with funny names 3, 2015, Video, 24:44 Min., © Korakrit Arunanondchai 2019; courtesy the artist; Carlos / Ishikawa, London; Clearing, NewYork; Bangkok CityCity Gallery, Bangkok
Korakrit Arunanondchai, Painting with history in a room filled with people with funny names
3, 2015, Video, 24:44 Min., © Korakrit Arunanondchai 2019; courtesy the artist; Carlos /
Ishikawa, London; Clearing, NewYork; Bangkok CityCity Gallery, Bangkok

Dieser Text erschien zuerst im MuseumsJournal 2 / 2020. Anna-Catharina Gebbers ist Kuratorin, Charlotte Knaup kuratorische Assistentin am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, Staatliche Museen zu Berlin


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